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Werner Winkler's Lösungssammlung:

 


Lösungs-Werkzeuge von A-Z
Zweifel wecken (Dekonstruktion)

 

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Praxisbeispiel:

Zum zweiten Mal schon tauchte dieser Mann mit dem Fernrohr beim König auf und hielt ihm seinen Vortrag. Der Herrscher müsse keine Angst vor den Aussagen des Hofastrologen haben, der behauptete, seine Amtszeit gehe demnächst zu Ende. Zwar sei die Sonnenfinsternis vom letzten Monat ein außergewöhnliches, aber kein göttliches oder unheilbringendes Ereignis. Er ließ den alten Mann am Abend durch die Röhren schauen und zeigte ihm die Ringe des Saturn und die davor kreisenden Monde. Dafür konnte der herbeigerufene Magier in seinen alten Schriften keine Erklärung finden und machte sich dazu noch lächerlich, als er vermutete, auf den Linsen sei womöglich Staub oder Atemhauch der solche Phänomene erzeuge. "Du hattest wohl recht mit deiner Vorhersage", sprach ihn darauf der König an. "Es geht eine Amtszeit zu Ende, und zwar die deinige. Ich werde das Geld stattdessen für eine eigene Sternwarte ausgeben und an der Universität einen Lehrstuhl für Astronomie einrichten."

 

Beschreibung:

Zweifel zu wecken im Sinne einer Dekonstruktion setzt voraus, dass jemand an einem Konstrukt leidet. Bezieht sich die Beschwerde auf etwas tatsächlich vorhandenes (z.B. ein fehlendes Bein), passt dieses Werkzeug nicht. Folgert ein Patient aber aus dem fehlenden Bein, nun habe sein Leben keinen Sinn mehr, dann handelt es sich um ein potentiell veränderbares Konstrukt. Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, wieviel von ihren Vorstellungen 'nur' Konstrukte sind und genauso gut ganz anders gesehen und benannt werden könnten. Als Faustregel kann gelten (Achtung: diese Regel ist ebenfalls nur ein Konstrukt): Was jederzeit objektiv und messbar festgestellt werden kann, gilt nicht als Konstrukt. Ideal wäre, wenn eine Maschine oder ein Messinstrument die Messung vornimmt.

Letztlich kann man aber auch beobachten, dass Wirklichkeit durch Übereinstimmung zwischen einer Gruppe von Menschen erzeugt wird - angenommen, alle Berater des Königs würden an die schicksalsbestimmende Macht der Sterne glauben und sich danach richten, entstünde durchaus so etwas wie Wirklichkeit, obwohl es streng genommen nur ein Konstrukt wäre.

Den Ausführungen des Philosofen Karl Popper folgend könnte man sämtliche Phänomene in drei Kathegorien einteilen:

 

1. Die materielle, tatsächlich vorhandene Welt wie sie von allen Menschen identisch wahrgenommen wird. Das heißt z.B., jeder gesunde Mensch wird, wenn er gegen eine Wand rennt, einen Laut erzeugen und Schmerzen spüren. Also ist das Vorhandensein der Wand eine Tatsache, auch wenn ein Physiker argumentieren könnte, aus atomarere Sicht bestünde die Wand nur aus Energie oder Quantenzuständen. In der alltäglichen Lebenswelt macht eine quantenphysikalische Sichtweise keinen Sinn und kann daher vernachlässigt werden. In medizinischen Experimenten wurde als Test, ob es sich z.B. bei der angenommenen Wirkung von Medikamenten um Tatsachen (oder Fehl-zuschreibungen, Scheinbeobachtungen, Placebowirkungen etc.) handelt, die Durchführung mehrerer "placebokontrollierter Doppelblindtests" als Standard akzeptiert. Dabei bekommt die eine Hälfte der Patienten das Medikament, die andere das Placebo; weder Ärzte noch Patienten wissen aber, zu welcher Gruppe sie gehören. Erst am Ende wird das Ergebnis den Gruppen zugeordnet. Zeigen dann etwa ein homöopathisches Mittel und ein wirkstoffloses Placebo die gleiche (wenn auch positive) Wirkung, muss man an anderer Stelle nach der Ursache suchen (z.B. im Glauben der Patienten an die Wirksamkeit und die dadurch veränderten Parameter wie Wahrnehmung oder Immunabwehr). Das hieße dann, die angenommene Wirkungsweise wäre ein Konstrukt, die Wirkung selbst jedoch eine Tatsache.

 

2. Die subjektive Welt des Individuums. Auch hierbei handelt es sich um Konstrukte, jedoch nicht um gemeinsame einer Gruppe, sondern auf den Einzelnen begrenzte. Wenn ich mich etwa für einen "Deutschen" halte, lässt sich das in keiner Weise an biologischen Merkmalen beweisen. Ein Vermerk in meinem Pass gehört eindeutig zur 3. Kathegorie. Auch hier verwechseln viele (z.B. psychisch extrem leidende Menschen) ihre Vorstellungen und Sichtweisen ("ich bin Napoleon") mit der realen Welt aus der 1. Kathegorie. Finden Sie dann niemand, der ihre Selbstwahrnehmung teilt, kann das schwere Folgen und den Ausschluss aus der Gemeinschaft führen. Mancher Religionsgründer könnte auch daran gescheitert sein, weil sich nicht rasch genug genügend Menschen fanden, die sich auf dessen Sichtweise einließen. Andererseits kann die Sicht eines Einzelnen durchaus in kurzer Zeit viel Anklang finden und zu einem Teil der gemeinsamen Konstrukte (3. Kathegorie) werden (z.B. die Rechenkunst eines Adam Riese, die religiösen Anschauungen eines Abrahams, Moses, Mohammeds, Buddhas, Jesus, Baghwans oder die psychoanalytische Betrachtungsweise).

 

3. Die Welt der gemeinsamen Konstrukte - dazu gehören die in jeder Gesellschaft, Gruppe oder Familie vorhandenen Übereinkünfte: Sprache, Wort- und Zeichenbedeutung, Religion, Werte, Rechenregeln, Krankheitsbenennungen, Namen von Pflanzen, Tieren, Steinen usw., Gesetze, Regeln, Gebräuche etc. In dieser 'Welt' geht es um veränderbare und sich ständig verändernde Konstrukte. Daher kann bei einem Problem, das sich auf diese Kathegorie bezieht, auch mittels Änderung der Gedanken oder Bewertungen eine Lösung entstehen.

Tatsächlich kommt es häufig vor, dass jemand zwischen der ersten und der dritten Kathegorie nicht unterscheidet und z.B. die religiösen oder weltanschaulichen Vorstellungen seiner Gruppe (wie im Beispiel oben) für ein "Naturgesetz" oder "die Wahrheit" hält. In Folge dessen wird er natürlich auch gegenüber anderen diese Sichtweise offensiv vertreten und Zweifel daran als "Missachtung der Wahrheit" auffassen. Erhalten einzelne Gruppen sogar Macht über andere (z.B. in religiös denkenden Regierungen) droht allen 'Ungläubigen' Gefahr.

Toleranz dagegen beruht auch auf der Erkenntnis, dass viele Fragen des menschlichen Daseins in der 1. Kathegorie nicht zu klären sind - sie stattdessen (möglicherweise durchaus sinnvolle) Konstrukte der 3. Kathegorie darstellen. Hier geht es aber nicht um "richtig" oder "falsch", sondern um Nützlichkeit, Akzeptanz oder die Folgen der jeweiligen Sichtweise. Man spricht hier von den "unentscheidbaren Fragen"; diese lassen vielerlei mögliche Antworten zu, nicht aber eine einzig Richtige.

Die Wichtigkeit solcher Unterscheidung zeigt sich z.B. bei Beschwerden, bei den unklar ist, ob es sich um psychische Vorgänge (also Konstrukte) oder körperliche (z.B. biochemische oder durch Tumoren etc. hervorgerufene) Erkrankungen handelt. Wird durch falsche Zuordnung ein ungeeigneter Weg beschritten (z.B. eine Psychotherapie begonnen, obwohl es sich rein sachlich betrachtet um die Folgen eines Hirntumors oder eines Nährstoffmangels handelt), wird sich das Problem kaum lösen lassen und durch die zusätzlich eintretende Verzweiflung des Patienten noch verschlimmern. Herausfinden lässt sich dieser Unterschied bei andauernden Beschwerden etwa dadurch, dass zunächst die einfachen Möglichkeiten zur objektiven Messung möglicherweise veränderter Werte (Nährstoffe, Hormone oder Gifte im Blut, Tumormarker, EEG) untersucht werden, dann die aufwändigeren (Computertomographie) und erst wenn sich dort nichts Krankhaftes zeigt, in Richtung Psychotherapie oder psychologischer Beratung gedacht wird. Selbstverständlich kann man auch parallel vorgehen, wie dies in manchen Kran-kenhäusern gemacht wird, die interdisziplinär arbeiten.

Falls sich im Übrigen das Zweifeln selbst zu einem Problem entwickelt, man z.B. an seinem ganzen Leben, dem Partner oder dem eigenen Verstand zweifelt und damit keine Lösung erzielt, lohnt es sich vielleicht, auch am Sinn des Zweifelns zu zweifeln.

 

Übung:

Auch Zweifeln kann geübt werden - nehmen Sie z.B. ein x-beliebiges Buch aus dem Regal einer Buchhandlung oder Bibliothek (idealerweise aus der Rubrik 'Esoterik') und lesen Sie daraus einige Zeilen. Versuchen Sie nun, die Inhalte einer der drei oben genannten Kathegorien zuzuordnen, unabhängig davon, für wie 'wahr' die Aussagen zunächst klingen mögen. Vieles wird nämlich als wahr verkauft, das nur ein Konstrukt/eine Ansicht ist.